ZitatAnfang 2006 hatte sich ein kleiner Kreis von Ticketinteressierten im Internet auf https://www.tooor.de eingefunden, einem der zahllosen weitestgehend unbekannten kleineren Fussballforen in den Weiten des World Wide Web. Doch Tooor war anders: Die Seite bot neben den üblichen Diskussionen auch eine gut funktionierende Tauschbörse für WM-Karten. Was offiziell gar nicht funktionieren sollte, war hier inoffizielle Realität und lockte immer neue User auf die Seite. Und mit den Neuankömmlingen kamen die Ideen.
Zunächst begann alles ganz harmlos: Nachdem sich herausgestellt hatte, dass die Chancen auf WM-Karten nachts wegen der geringeren Konkurrenz deutlich besser standen, schlossen sich einige Nutzer zur „N8schicht“ zusammen, um die endlosen Stunden im Ticketshop erträglicher zu gestalten. Andere tüftelten Informationsketten nach dem Schneeballprinzip aus, mit deren Hilfe man innerhalb weniger Minuten hunderte User per SMS über eine neue Kartenflut im FIFA-Ticketshop informieren konnte. Die Tooor-gemeinde wuchs langsam und entwickelte eine sagenhafte Solidarität: Tipps und Kniffe wurden der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt, und wenn sich beim Herumprobieren plötzlich ein virtuelles Bestellformular öffnete, das man selber nicht gebrauchen konnte, dann schickte man den Link einfach einem anderen Mitglied oder tippte gleich selbst dessen Daten ein.
Täglich jedoch baute die Tooor-Comunity auch ihren Wissensvorsprung aus, sodass irgendwann kaum eines der „alten“ Mitglieder weniger als 5 WM-Spiele in seiner Signatur stehen hatte. „Jünter“ verschickte komplexe Gebrauchsanweisungen für den FIFA-Ticketshop, „Ormus“ stellte der Allgemeinheit ein selbst programmiertes Hilfsprogramm zur Verfügung, das als „Ormus-Tool“ schon bald über die Grenzen des Forums hinweg Bekanntheit erlangen sollte. Doch auch völlige Internet-Laien fanden im Forum Hilfe. Hauptgrund hierfür war die extrem simple Programmierung des FIFA-Ticketshops und seiner Warteraumstruktur. Das Abwarten des 30-Sekunden-Countdowns erwies sich oft als pure Zeitverschwendung – während sich die einen an die Anweisungen hielten und warteten, aktualisierten andere dank der Insidertipps alle 2 bis 3 Sekunden die Seite und kamen deutlich schneller zu den Tickets. Und auch der Hinweis auf der FIFA-Seite, dass die gewünschten Karten leider nicht mehr verfügbar seien und man sich am besten zurück zur Auswahlseite des Shops begeben solle, war oftmals ein schlechter Rat. Denn häufig wurden gleiche Karten mehrfach hintereinander unter der selben Webadresse verkauft. Wer bereits auf der entsprechenden Seite auf der Lauer lag, konnte die neu hereinkommenden Tickets als Erster in Empfang nehmen. Kein Wunder, dass die Erfolge der Tooor-Community auch Neid auslösten, vor allem, nachdem ein extrem einseitiger Bericht im Handelsblatt den Eindruck erweckte, als könne man mit den nötigen Werkzeugen einfach den Ticketshop plündern und sich jedes beliebige WM-Karten einverleiben. Dass die Kartenjäger von Tooor.de teilweise über Monate ihre ganze Freizeit in die Suche nach WM-Tickets investiert hatten, wurde geflissentlich verschwiegen. „Blitz von Kitz“ beispielsweise war mehrere Wochen lang jeden Morgen zwischen 5 und 6 aufgestanden, um dem üblichen Gedrängel im Ticketshop aus dem Weg zu gehen und hatte sich so immerhin 6 WM-Spiele gesichert. Andere hatten bei eBay tausende Deckel von Coke-Flaschen ersteigert, in mühsamer Kleinarbeit die darin befindlichen Codes abgetippt und auf diese Weise erfolgreich an der Verlosung von WM- Karten teilgenommen. Viel Mühe hatte sich auch Antonio aus Weinsberg gegeben: Für seinen krebskranken Sohn Dario wollte er unbedingt ein WM-Spiel ergattern, nicht zuletzt als Anreiz, die bis Mitte Juni dauernde Chemotherapie zu überstehen. Doch an wen er sich auch wandte: Von der FIFA, dem OK, verschiedenen Fernseh- und Radiostationen und Franz Beckenbauer kam – wenn überhaupt – nur eine Absage. Als letzte Hoffnung setzte er bei eBay ein als Angebot getarntes Hilfsgesuch ein, woraufhin ihm ein anderes eBay-Mitglied einen Aufruf bei Tooor.de empfahl. Ein guter Rat, denn was den etablierten Institutionen unmöglich oder zu mühsam war, klappte dort innerhalb von 2 Stunden. Ein Tooor-User gab 2 seiner eigenen Karten ab, andere beteiligten sich finanziell an den Kosten. Später kamen noch Karten für die Mutter und einen Onkel und ein Spendenkonto hinzu. Sichtlich gerührt traf die italienischstämmige Familie im Rahmen des Spiels einige Helfer, und als ausgerechnet Darios Lieblingsspieler Totti das entscheidende Tor erzielte, war für den Elfjährigen „der schönste Tag meines Lebens“ perfekt. Noch wichtiger jedoch: Inzwischen ist der Junge auf dem Weg der Besserung und kann sogar schon wieder Fussball spielen. Und die Forumsmitglieder helfen auch künftig mit günstigen Fussball-tickets nebst Reisekostenzuschuss aus.
Quelle: Stadionwelt-Magazin, Ausgabe Nr.19 (Aug./Sep.) Seite 93-94