Mir kann man sagen was man will, ich fand die EM toll und ich möchte das Erlebnis nicht missen, dort gewesen zu sein. Vor der EM kannte ich von Frankreich nur Flüghafen und Disneyland, und jetzt nach einem Monat fühl' ich mich mit dem Land fast schon verbunden. Alles hätte ich erwartet, aber nicht das mir Frankreich, die Städte und die Leute dort ans Herz wachsen würden.
Ich bin mit der Erwartungshaltung hingefahren, dass die Franzosen überbürokratisch drauf sind, mega umständlich, unfreundlich, kein Englisch sprechen, und generell keinen Bock auf Besucher haben. Dann noch Polizei an jeder Ecke die dir wahrscheinlich in noch nie dagewesenem Ausmaß auffen Sack geht. Meine Hoffnung war es, zumindest ein paar neue Stadien zu sehen und vielleicht guten Fußball.
Ich würde jetzt mal folgendes Fazit ziehen, auch wenn es immer mal wieder Ausnahmen gab:
1) Frankreich ist ein unerwartet schönes und interessantes Land, das ich gerne noch mal besuchen würde
2) Die Stadien waren alle zumindest nicht belanglos, jedes hatte seinen eigenen Charakter und war eine Reise wert
3) Alles was die Franzosen selbst zum Turnier beitragen konnten war tendenziell unerwartet herzlich und schön
4) Alles was die UEFA angefasst hat war tendenziell scheiße
5) Frankreich hat allerdings ein wesentliches und nicht wegzudiskutierendes Problem, und das sind die völlig inakzeptablen Bierpreise
Zum Besuchen war es ein Super-Turnier und ich bleibe bei meiner Einschätzung, dass es bis 2024 wohl nichts Vergleichbares mehr geben wird. Höchstens könnte ich mir vorstellen, dass mich die Neugier 2022 nach Katar bringt (immer unter der Annahme, dass man Karten und Reisen dann auch hinterher geschmissen bekommt). Aber ich bereue überhaupt nicht, dorthin gefahren zu sein und für mich war es insgesamt ein tolles Erlebnis.
Und um das noch einmal im Detail zu untermauern, für die die's interessiert:
Zu 1)
Gesehen habe ich: Lille, Lens, Versailles, die Autobahn von Versailles bis Fréjus an der Cote d'Azur, die Corniche Esterel von St. Raphael nach Cannes, Cannes selbst, Marseille, die Autobahn von Cannes über Toulouse nach Arcachon, Arcachon selbst, Bordeaux und Paris.
Ohne auf jeden Ort einzugehen: Ich fand ausnahmslos alles sehenswert. Nach Toulouse würde ich wahrscheinlich nicht mehr fahren - wir haben dort Rast gemacht und eine völlig ungenießbare Pizza gegessen, die Yelp in höchsten Tönen empfohlen hatte Ansonsten ist da kein Ort bei den ich nicht wieder besuchen würde und der nicht irgendwas Faszinierendes hatte.
Zu 3)
Es gab auch Ausnahmen und manchmal kommen die Menschen (vor allem in Restaurants) etwas komisch rüber, aber wenn man sich darauf einließ war es auffällig, dass niemand hochnäsig, unfreundlich oder arrogant war. Für mich hat sich jedenfalls kein Vorurteil über Franzosen bestätigt.
Wenn wir in Fußballklamotten rumliefen waren die Leute ausnahmslos freundlich und haben versucht, mit uns 2-3 Sätze zu wechseln und was Nettes zu sagen. Wenn wir als Deutsche erkennbar waren gab es meistens irgendetwas Anerkennendes zu unserem Team zu hören, auch wenn wir nicht drum gebeten hatten. Die Polizisten waren präsent aber locker drauf und sogar nett, wenn man ihnen nett gegenüber trat - ich finde jedes Revierderby deutlich stressiger und hatte hier das Gefühl, dass die Polizei nicht wie bei Bundesligaspielen mal den Dicken markieren und den Fuhrpark austesten, sondern wirklich nur ihren Job machen wollte. Die Volunteers und Mitarbeiter in den Stadien wirkten nicht immer gut organisiert, waren aber immer nett und bemüht - das finde ich besonders bemerkenswert, da es gerade bei denen durchaus nachvollziehbar gewesen wäre, wenn schlechte oder nicht existente Bezahlung gepaart mit der Position an vorderster Front bei der Terror-Angst-EM mal zu schlechter Laune geführt hätten.
Ich hatte das Gefühl, willkommen zu sein und ich hatte das Gefühl das sich die Leute freuten, dass Besuch da war.
Zu 4)
Scheiß-Modus mit unspannenden Spielen, Dauerbeschallung mit 49x der gleichen Eröffnungsshow im Stadion, völlig überteuerte Preise, miserables Catering inklusive unnötigem Alkoholverbot, aggressives Leute-aus-dem-Stadion-vertreiben nach dem Spiel. Herzlichen Glückwunsch, UEFA, alles verhunzt was man nur irgendwie kaputtmachen konnte. Man muss mit Fußball schon verdammt wenig anfangen können, um ein Fußballturnier so aufzuziehen.
Ich könnte verstehen wenn die UEFA die Linie fährt, dass man sich an Amerika orientiert und die Spiele zu Entertainment-Events macht, die dann auch entsprechend mehr kosten. Nur muss man es dann aber auch können und nicht einfach die Preise anziehen. In den USA ziehen sie dir im Stadion ein halbes Vermögen aus der Tasche, aber dafür ist das Essen und Trinken mit einer Riesenauswahl und völlig ausgeflippten Gerichten an sich schon ein Entertainment-Faktor. Bei der UEFA zahlst du 6€ für abgestandenen Tourtel Twist Instant-Diabetes-Trunk und sollst den dann bitte noch runterstürzen, wenn du ihn nach Kontrolle 2 aber vor Kontrolle 3 gekauft hast. Oder bestellst Pommes, die in ner Plastikschale serviert werden ohne das es dafür Majo oder Ketchup gibt. Wenn man davon ausgehen darf dass die meisten Touristen sich mehrere Spiele anschauen ist es auch diskutabel, ob man jeden Standort komplett gleich gestaltet und jede Eröffnungsshow ebenfalls 1:1 gleich aufbaut. Von dem schlichtweg menschenverachtenden Prozedere bei verlorenen Tickets wurde hier ohnehin schon genug geredet, das war einfach pure asoziale Willkür. Das Finale war eigentlich die beste Verkörperung des Ganzen - Leute zahlen hunderte von Euro für Tickets, die in einem lieblosen Papierumschlag zugestellt werden, gehen in ein Stadion das noch nicht einmal irgendein besonderes Venue Dress fürs Endspiel hat (außer natürlich im TV-relevanten Bereich), und werden dann nach der Pokalübergabe ziemlich rabiat von den Ordnern aus dem Stadion gedrängelt, während die Mannschaft noch feiert.
Es drängt sich insgesamt der Eindruck auf, als ob bei der UEFA nur Leute für die Planung verantwortlich sind, die entweder seit Jahren nicht oder noch nie mit ner normalen, selbst bezahlten Karte ins Stadion gegangen sind. Man verliert die inhaltliche Argumentationsgrundlage um zu erklären, wieso die Existenz eines Verbands UEFA etwas Gutes ist und wieso es nicht irgendein kommerzieller Investor besser machen würde.
Zu 5)
Bis zu 11€ für nen halben Liter gehen gar nicht und sollten eigentlich ein EU-Ausschlussverfahren nach sich ziehen