Würde mich freuen den Artikel zu lesen.
Stefan Aust
„Unter dem Beifall unserer Feinde“
#allesdichtmachen-Debatte: Das Unbehagen, von der falschen Seite beklatscht zu werden
Einige Schauspieler ziehen nach einem Shitstorm ihre Videos zu #allesdichtmachen wieder zurück. Das erinnert an die Debatte um die Ausbürgerung von Wolf Biermann. Vor allem ein Argument haben Kritiker sowohl damals wie heute verwendet.
Einige der bekanntesten Künstler des Landes protestieren gegen eine Entscheidung der Regierung. Viele empören sich – gegen die Künstler. Die seien arrogant, hätten sich im Ton vergriffen. Das zeige sich schon daran, dass sie Beifall von der falschen Seite bekommen. Einige beugen sich dem Druck, ziehen ihre Unterstützung zurück.
Wir befinden uns im November 1976. Es geht um die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann aus der DDR. Biermann hatte ein Konzert in der Kölner Sporthalle gegeben. Das SED-Zentralorgan „Neues Deutschland“ (ND) entrüstete sich: „Was er dort, noch als DDR-Bürger und in einem kapitalistischen Land, an Hass, an Verleumdungen und Beleidigungen gegen unseren sozialistischen Staat und seine Bürger losgelassen hat, macht das Maß voll. Schon jahrelang hat er unter dem Beifall unserer Feinde sein Gift gegen die DDR verspritzt.“
Die Entscheidung, ihm die Staatsbürgerschaft der DDR zu entziehen, begründete das „ND“ damals moralisch: „Um den Grad der Unverschämtheit dieses sogenannten Liedermachers zu ermessen, muss man sich vergegenwärtigen, auf welcher Bühne sich das alles abgespielt hat, nämlich in einem kapitalistischen Land, in der BRD. Dass dort die kapitalistische Ausbeutung noch immer fortdauert, dass Unsicherheit, Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Inflation die werktätigen Massen quält, dass jede progressive Betätigung bespitzelt und mit Repressalien belegt wird, das alles stört Biermann nicht.“
Einen Sänger wegen eines Konzerts aus dem Land zu verbannen – das war eine harsche Maßnahme, die sich bis dahin auch in der DDR niemand hätte vorstellen können. Deshalb passierte etwas, was die Regierung nicht erwartet hatte: Einige der bekanntesten Künstler der DDR schrieben eine Petition, in der sie die Rücknahme der Ausbürgerung forderten. Die Schriftstellerin Christa Wolf gehörte ebenso dazu wie die Schauspieler Manfred Krug und Armin Mueller-Stahl. Dabei drückten sie sich vorsichtig aus, formulierten politisch korrekt: „Wir identifizieren uns nicht mit jedem Wort und jeder Handlung Wolf Biermanns und distanzieren uns von den Versuchen, die Vorgänge um Wolf Biermann gegen die DDR zu missbrauchen.“
Ein Shitstorm avant la lettre
Doch das half ihnen nicht. Denn der Brief war von den „bürgerlichen Massenmedien der BRD“ veröffentlicht worden, womit aus DDR-Sicht auf der Hand lag, wes Geistes Kind er war. Da reichte es dann auch nicht, dass sich die Unterzeichner entschuldigten: „Die Veröffentlichung dieses Briefs in westlichen Massenmedien war nicht geplant.“ Der Schriftsteller Stephan Hermlin zog seine Unterschrift zurück, ebenso der Bildhauer Fritz Cremer. Grund für diese Rückzieher war nicht in erster Linie die Angst vor Repression, wobei die auch drohte. Grund war vor allem die Sorge, gegen die DDR instrumentalisiert zu werden, was keiner der Unterzeichner wollte.
Die DDR-Medien betrieben eine Kampagne gegen die Petition, in der wiederum andere Künstler zu Wort kamen, die sich von ihren Kollegen distanzierten. „Wer oder was gewinnt, und wer oder was verliert etwas, wenn sozialistische Künstler, die ihrer sozialistischen Regierung eine Mitteilung zu machen wünschen, sich kapitalistischer Übermittlungs- und Verstärkeranlagen bedienen?“, fragte etwa Hermann Kant, damals Vizepräsident des Schriftstellerverbands der DDR. „Woran erkennt man seine Freunde, wenn sie dem Feinde Worte in den Mund legen, die ihm beinahe schon ausgegangen waren?“
Dem Shitstorm, der damals noch nicht so hieß, schlossen sich auch einfache Werktätige an. „Wir Arbeiter brauchen keinen ‚Dichter‘ Biermann, der die werktätigen Menschen in der DDR verleumdet und beleidigt“, zitierte das „ND“ Max Oeser, Komplexbrigadier im Bau- und Montagekombinat Ingenieurhochbau Berlin. „Was wir unter vielen Mühen und Anstrengungen erfolgreich aufgebaut haben, ist in erster Linie das Werk der Arbeiterklasse. Ich kann mich nicht erinnern, dass Wolf Biermann je etwas dazu beigetragen hat.“
Auch Theologiestudenten protestierten, sowohl gegen die Ausbürgerung Biermanns als auch gegen das Schweigen ihrer Kirche dazu, verglichen es gar mit dem Schweigen der Kirche im Dritten Reich. Der damalige Generalsekretär des DDR-Kirchenbunds empfand diese Kritik als arrogant und unpassend, schrieb in einer Aktennotiz dazu: „Immerhin ist hier ein sehr hohes Ross erkennbar!“ Sein Name: Manfred Stolpe. Nach der Wende wurde er Ministerpräsident von Brandenburg. Und als ehemaliger Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi unter dem Decknamen IM „Sekretär“ entlarvt.
Damals Petitionen, heute Videos
„Abgehoben und zynisch“, so nennt Ulrich Matthes, Präsident der Deutschen Filmakademie, die Kunstaktion „Alles dichtmachen“. Einige der berühmtesten Schauspielerinnen und Schauspieler des Landes sind beteiligt, diesmal des vereinigten Deutschlands: Ulrich Tukur, bekannt etwa aus dem großen Spielfilm über die Stasi, „Das Leben der Anderen“, der 2007 den Oscar als bester fremdsprachiger Film erhielt. Jan Josef Liefers, der am 4. November 1989, wenige Tage vor dem Fall der Mauer, in Berlin bei der größten Demonstration für Demokratie in der DDR sprach – die breite Öffentlichkeit kennt ihn etwa als Professor Boerne im Münsteraner „Tatort“. Meret Becker, deren Großmutter von der Gestapo ins Gefängnis gesteckt wurde. Außerdem Volker Bruch, Felix Klare, Nina Gummich, Martin Brambach, Kathrin Osterode, Miriam Stein, Jörg Bundschuh, Inka Friedrich, Cem Ali Gültekin, Nadine Dubois, Richy Müller, Katharina Schlothauer, Wotan Wilke Möhring, Nadja Uhl, Ulrike Folkerts und viele andere.
Die Technik hat sich seit 1976 weiterentwickelt, und deshalb haben die Künstler keine Petition geschrieben, sondern Videos ins Internet gestellt. „Ich habe im letzten Jahr angefangen, solidarisch mit dem Finger auf andere Leute zu zeigen“, sagt in seinem Kurzvideo Martin Brambach, in der DDR geboren und heute unter anderem Kriminalhauptkommissar im Dresdner „Tatort“. „Ich brauche klare Regeln, und es tut mir gut, wenn ich andere darauf hinweisen kann, was sie falsch machen.“ Dann zückt er die Fernbedienung seines Fernsehers und fährt fort: „Und es gibt ja ständig neue Maßnahmen und Regelungen, ich halte mich immer auf dem Laufenden, dann bin ich der Erste, der das weiß, und kann den Menschen in meiner Umgebung sagen, was sie falsch machen.“
Klar erkennbare Satire über Autoritätsgläubigkeit und Denunziantentum, die derzeit in Deutschland Wiederauferstehung feiern. Als hätte sie den Shitstorm gegen die Künstleraktion vorausgesehen, sagt Nina Gummich, bekannt etwa aus den Serien „Babylon Berlin“ und „Charité“, in ihrem Beitrag: „Es ist für uns alle am besten, wenn wir einfach das wiedergeben, was uns von der Bundesregierung aufgetragen wird, denn nur so können wir uns in der Gemeinschaft wieder solidarisch und aufgehoben fühlen – und für die Karriere ist es auch besser.“
Ulrich Tukur fordert in seinem Video „unsere erhabene Regierung“ auf: „Schließen Sie ausnahmslos jede menschliche Wirkungsstätte und jeden Handelsplatz, nicht nur Theater, Cafés, Schulen, Fabriken, Buchhandlungen, Knopfläden, nein, auch alle Lebensmittelläden, Wochenmärkte und vor allem all die Supermärkte.“ Eine unverkennbare Anspielung darauf, dass die Bundesregierung bisher vor allem Orte geschlossen hat, die bei der Ausbreitung der Pandemie kaum eine Rolle spielen.
Verblüffende Parallelen im Umgang mit Protest
Der damalige Künstlerprotest gegen die DDR-Regierung und der heutige Künstlerprotest gegen die Bundesregierung sind natürlich nicht vergleichbar. Mit etwas Zynismus könnte man sagen: weil die heutigen Freiheitseinschränkungen viel mehr Menschen betreffen als die Ausbürgerung Biermanns. Aber nein, im Ernst, die Bundesrepublik ist nicht die DDR, wir leben nicht in einer Diktatur, hier würden nicht Äpfel mit Birnen verglichen, sondern Äpfel mit Autos.
Verblüffend sind aber einige Parallelen im öffentlichen Umgang mit dem Künstlerprotest. Damals wie heute wird er von den Medien nahezu geschlossen verurteilt. Abermals werden Verbandsfunktionäre aufgeboten, die sich von dem unverantwortlichen Verhalten ihrer Mitglieder distanzieren. Beteiligte Schauspielerinnen und Schauspieler wie Heike Makatsch, Meret Becker, Ken Duken, Kostja Ullmann oder Richy Müller wurden dazu gebracht, zu widerrufen und ihre Videos zurückzuziehen.
Die Website der Aktion, allesdichtmachen.de, gleicht jetzt mit ihren schwarzen Flecken einer zensierten Zeitung in einer Militärdiktatur. Wie bei den Künstlern in der DDR, die widerriefen, ist es auch bei ihnen das Unbehagen, von der falschen Seite beklatscht worden zu sein, etwa von der AfD. Wobei auch der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit die Kunstaktion lobte als „Meisterwerk“, das „uns sehr nachdenklich machen sollte“.
Nachdenklich machen sollte uns auch, dass schon die DDR-Oberen das Argument mit dem falschen Beifall verwandten. Kritik an der Ausbürgerung Biermanns wurde damit disqualifiziert, dass sie auch Beifall „aus der BRD“ bekommen hatte, einem Staat, in dem alte Nazis wie Kiesinger und Filbinger in Spitzenpositionen saßen – was übrigens ebenso stimmt, wie dass die AfD eine schlimme rechtspopulistische Partei ist. Damals wie heute wird nicht argumentiert, sondern moralisiert. Biermann wurde vorgeworfen, er habe sich nicht um das Schicksal von Arbeitslosen gesorgt. Den Künstlern heute wird gar Schuld an den Corona-Toten unterstellt – dabei liegt die doch bei der von ihnen kritisierten Bundesregierung, die versagt hat: bei der Impfkampagne, der Nachverfolgung von Infektionen, der Beschaffung von Luftfilteranlagen für die Schulen …
Nun werden auch unsere Vergleiche neue Empörung auslösen, etwa mit dem Einwand, dass die Repressalien gegen Künstler in der DDR nicht mit möglichen Nachteilen in der heutigen Bundesrepublik vergleichbar sind. Das stimmt. Aber es ist erschreckend, wenn heute nicht nur Wutbürger auf Twitter und Facebook fordern, die Satiriker abzustrafen. WDR-Rundfunkrat Garrelt Duin, immerhin ehemaliger SPD-Landesvorsitzender in Niedersachsen und dann Minister in NRW, will gleich die Zusammenarbeit der Öffentlich-Rechtlichen mit Schauspielern wie Liefers und Tukur beenden.
Zwar hat er seinen Tweet dazu inzwischen gelöscht, aber die Wirkung ist erreicht: Künstler, zumal weniger bekannte und betuchte, werden sich in Zukunft zweimal überlegen, ob sie die Regierung öffentlich kritisieren. Denn Berufsverbote und Existenzvernichtung sind für sie nicht nur eine Drohung, sondern schon mehr als ein Jahr Realität: Seit März 2020 sind in Deutschland fast alle Theater und Konzertsäle geschlossen.