“…und da geht dieser sowjetische General die Tische mit den Knarren entlang, greift sich eine Walther und hält in die Menge, nur mal so…” erzählt am Nebentisch ein Waffenhändler seiner angeheuerten Übersetzerin von alten Abenteuern in Kiev. Da fällt´s einem schwer, sich auf die Karte zu konzentrieren und die richtige Wahl für´s Abendessen zu treffen, bevor´s zur “LTU-Arena” geht, wo heute die Griechen zu einem Freundschaftsspiel gegen Portugal antreten. Die Neu-Auflage des EM-Eröffnungs- und des EM-Endspiels.
Die drei Italiener, die den Laden schmeißen, stehen in der Küche und starren unablässig hoch zum Fernseher, bis sich endlich wer erbarmt und wir bestellen können. “Spielt Italien-Spanien schon?” will ich wissen, bekomme ein verlegenes “Nein, läuft nur Quatsch, Marienhof und so…” zur Antwort, und beim Anblick meiner Holden Hellenin in ihrem 2004er Hellas-Trikot merkt der Kellner an: “Ah! Zum Fußball!”. Genau: Die Europameisterin sitzt also beim Weltmeister zum Essen, und der Vizemeister zahlt...
Vor einigen Tagen wurde ich überrascht davon, dass meine bessere Hälfte im Büro anrief – das kommt sonst nie vor: “Hellas kommt nach Düsseldorf!”. Klar, dass ich Karten besorgen musste, im Griechen-Block, und zur Vorbereitung hab ich mir heute früh die populärsten hellenischen Schimpfworte erklären lassen. Ein paar davon kannte ich aus früheren Ehekrächen schon, auch wenn ich bisher nicht wusste, was sie bedeuten. Ok,…ich tu mal so als hätte ich´s nicht gemerkt.
Gut 50 Minuten vor Anpfiff springen wir in eine Bahn zum Stadion, proppevoll ist die schon, aber wir passen noch rein, werden empfangen mit “Mensch, noch mehr Schalker!”. Das “04” auf dem Trikot der Glutäugigen hat´s verraten, und die Jungs rumum outen sich als Königsblaue, die aus´m Pott herüber gekommen sind, unterhalten uns mit Geschichten über Opa, der einst für Schalke spielte, und den Bestattungsunternehmer so besonders glücklich machte, als der endlich seinen blauen Sarg los wurde… Nebenan träumt ein reifer Recke von vergangenen Zeiten, “ach, mit Fortuna, im Rheinstadion… sechs drei gegen die Bayern, das war was…”. (ich staune.. 6:3?... ich glaub, ein 6:5 gabs mal, und ein 7:1, aber…?).
Ansonsten haben die Griechen in der zu dreivierteln mit Landsleuten besetzten Bahn die numerische und akustische Vormacht, hauen Schlachtrufe raus und schmettern mit ihrer Hymne die hellen Stimmchen und “Puuurtugal!”-Rufe der deutlich jüngeren Vizeeuropameister-Delegation nieder. “Das hamwir in der Schule aber zackiger gelernt”, meint mein Schatz kritisch.
Auf dem Bahnsteig werden wir empfangen von Durchsagen (auf deutsch; wo die jeweiligen Fans jetzt lang gehen sollen) und von einem Bouzouki-spielenden Griechen auf den Treppen. Ein Kollege lässt im Gedränge mal gleich seine unbeschadet bis hierher geschleppte volle Bierflasche fallen und kann den Anblick der tausend Scherben und des dahinrinnenden Goldes gar nicht fassen. An den Eingängen wird mordsmäßig kontrolliert – nicht so sehr nach Sprengstoff und Waffen, sondern nach gefährlichen Video- und Digitalkameras wird gefahndet. Die werden nicht geduldet, und selbst meine alte RitschRatschKlick wird genau untersucht, bevor sie als “schlecht genug” erkannt und mir mit mitleidigem Lächeln zurück gegeben wird. Komische Zeiten.
Wir haben Plätze im Oberrang, zu 20€ das Stück, kämpfen uns deshalb die elend lange Treppe hinauf und finden uns wieder in einer blau-weißen Menge, in der mindestens jeder Zweite die Fahne Griechenlands als Umhang oder in´s Gesicht gemalt trägt. Sieht hübsch aus, sind halt wunderbare Farben! Unter uns, direkt hinter dem Tor, tobt die hellenische Schar in der Südkurve. Man steht auf den Sitzen, wippt, und schmettert Wechselrufe mit den Seiten oder mit uns hier oben. “Ooooooh, Megala” oder so? Mein Schatzi ist auch ganz versunken in den Taumel ihrer Landsleute, kennt aber offensichtlich die richtigen Schlachtgesänge nicht.
Furchtbar warm isses, dabei hat´s gestern noch in Düsseldorf geschneit. Die verdammten Heizstrahler. Hängen am geschlossenen Dach rundum über den Tribünen, nicht nur vor uns, sondern auch an der Rückwand. “Umluft-Heißluftofen”, ich seh mich schon als knusprigen Knappen nach Hause kommen…
Der Stadionsprecher begrüßt die knapp 29.000 Zuschauer auf Deutsch und auf Englisch, strickt ein paar Worte griechisch und portugiesisch ein, und freut sich, dass Scolari, der Trainer der Portugiesen, wie schon vor der WM erneut ein Testspiel hier nach Düsseldorf gelegt hat. Leider fehlt auf der Anzeigentafel die Einblendung der Namen als die Aufstellungen bekannt gegeben werden – später wird dort live das Spiel übertragen, für die, die lieber fernsehen. Die griechischen Spielernamen werden bejubelt, die anderen ausgebuht. Sieben mal darf gewechselt werden, mehr bekomm´ ich nicht mit…
Die Mannschaften, die vorher unter großem Applaus zum Aufwärmen begrüßt wurden, sich aber auch Pfiffe gefallen lassen mussten, weil sie´s vor den falschen Tribünen taten, stellen sich zu den Hymnen auf, und die griechische wird von Zigtausend mitgesungen. In den häßlich bunten Smartie-Sitzen der LTU-Arena sind die Portugiesen vorher kaum aufgefallen, aber da hinten, in der Nordkurve, sind doch auch ganz schön viele davon versammelt. Die ersten 4 Sekunden ihrer Hymne höre ich noch, dann wird sie von der Menge auf dieser Seite hier niedergepfiffen. Das gefällt nicht jedem, und so gibt es ein paar Diskussionen im Block.
Offenbar sind die Heizstrahler jetzt ausgeschaltet, jedenfalls glimmen sie nicht mehr so giftig rot vom Dach herab. Scheint ein generelles Problem mit “glimmen” zu sein, denn sobald hier jemand einen Glimmstengel anzündet, stiefelt ein in schrecklich gelbes Plastik verpackter Ordner die Treppen hoch und übt “Zurechtweisen”. Naja, eigentlich geht´s ganz freundlich zu. Aber “Rauchverbot” im deutschen Fußballstadion, das hab ich seit der WM glaub ich nicht mehr erlebt – und selbst da wurde es von Ordnern nicht erzwungen…
Meine Heroin lächelt über beide Ohren, freut sich tierisch, ihre EM-Götter live zu erleben. Da unten steht wahrhaftig Goalkeeperidis, und davor Abwehrschlachtokles, und wie sie alle heissen. Ok, ich weiss, die heißen anders. Aber so hab ich sie 2004 genannt und dabei bleibts. Auf der anderen Seite fehlen Ronaldo und Nani, die beiden Jungspunde von Sporting Lissabon, äh, Manchester United. Die hätte ich gerne schonmal gesehen, bevor wir demnächst mit Schalke im “Old Trafford” siegen. Ähem… ich weiss, erstmal Barca kippen, schon gut. Aber ich hab immerhin die Flüge nach Manchester schon gebucht, man wird ja wohl mal träumen dürfen!
Also, die beiden Supermänner fehlen, aber dafür läuft neben Fernando Meira meiner neuer Freund Quaresma herum, den mag ich seit Neuer´s Weltklasse-Parade in der Verlängerung von Porto ganz besonders. Er zittert wie alle Portugiesen vor den Seriensiegern aus Hellas, insbesondere vor Charisteas, der schon in den ersten Minuten den während der WM von Schweinsteiger zu Fetzen geschossenen Torwart zweimal ganz schön alt aussehen lässt. Allerdings zeigt der Bremer-Amsterdamer-Nürnberger früh im Spiel auch ein ganz übles Foul, weshalb ihn die Portugiesen erst recht nicht mehr mögen.
Das Spiel läuft schon lange, und immer noch stiefeln hektisch griechische Familien die steilen Stufen hinauf in den Oberrang. Vorneweg die Kinder, die´s ganz eilig haben, und die sich am wenigsten bücken müssen, um die winzige Sitzreihenbeschilderung lesen zu können. Chaos wegen der Sitzplatzsuche gibt´s trotzdem genug, auch weil die Blocknummern ziemlich ungeschickt ausgewiesen werden hier. Wegen dieses ständigen Kommens und Gehens verpasse ich fast das 1:0: Karagounis, der wie Achilles über´s Feld schreitet, zwirbelt die Pille per Freistoß perfekt in den Winkel – der Jubel ist ohrenbetäubend, die Leute springen auf die Geländer, zeigen ihre Flaggen und Schals und sind unglaublich glücklich, während die Spieler Griechenlands sich direkt vor unserer Nase an der Eckfahne zu einem unentwirrbaren Knäuel verwickeln.
Während die Blau-Weisse Menge hier drüben tobt, macht sich der Anhang der Portugiesen wieder unsichtbar, blendet sich ein in die bunten Sitze da drüben, weg... Enttäuschung allerorten. Ich hab derweil umsonst was zu trinken bekommen, unfreiwillig und unbrauchbar obendrein. Von der netten alten Dame hinter mir, die vom Torjubel überrascht ihren Becher hinter mir abkippt. Dem Pelz nach, der unter dem Hellas-Schal hervorlugt, wird´s ne Champagner-Dusche gewesen sein. Danke schön.
Halbzeit, und ein wahnsinniges Gerenne zum und vom Bierstand hebt an. Die Eis- und Brezel-Verkäufer, die im Block unterwegs sind, springen hektisch aus dem Weg. Wir bleiben hocken, bewundern den grandiosen Rasen - ein Prachtstück, wie man es in Hamburg oder Dortmund schon seit Jahren nicht mehr zu Gesicht bekommt – und werden ausnahmsweise mal von grauslig lauter Reklame zugedonnert. Irgendwas über “d-ticket”, wo man Konzertkarten und so bekäme. Ansonsten ist hier wohltuende Ruhe, und Reklame gibt´s eigentlich nur am Rasenrand. “Sagres” für die Portugiesen, “Piräus Bank” für die Griechen…
Der Stadionsprecher vermeldet, dass Deutschland in der Schweiz mit 1:0 führe (sehr verhaltener Applaus von den Rängen), und die DEG in Nürnberg im letzten Drittel gar mit 3:1 (das interessiert so gut wie niemanden). Ich begehe den großen Fehler, mal eben meine eMails zu lesen, finde so drei Katastrophenmeldungen aus´m Büro, und bin deswegen für die nächste halbe Stunde auf 180, verpasse Anpfiff, Auswechslungen (Gekas und Amanatidis fehlen plötzlich) und alles Mögliche. Was wart´ ich damit nicht auch bis morgen?
Aus dem Zornzustand erlöst werd´ ich erst durch den phantastischen Freistoß von, na klar, Karagounis. Wieder unhaltbar, 2:0. Beeindruckend, zwei solcher Kunstschüsse in einem Spiel, vom selben Spieler, wann hab ich das das letzte Mal erlebt? Für die Griechen um mich herum ist der Käse gegessen, sie feiern ausgelassen, schwenken ihre (wirklich sehr schönen) Schals und Flaggen, und singen ihre Lieder, unterstützt von einem halben Dutzend Trommeln, die über die ganze Kurve verteilt sind.
Wir wollen uns das aus der Nähe ansehen, gehen deshalb zur Treppe, um zum Unterrang zu entfleuchen. Ein OrdnerMädel sieht die blauen Schals und interpretiert falsch: “Führt Portugal? Wollt ihr deshalb schon gehen?” – wir korrigieren sie, fragen dann beim Anblick der abweisenden Glasfassade unten: “Kommen wir denn von hier aus unten wieder rein?” und bei ihrem: “Keine Ahnung, ich bin aus Dortmund!” rutscht mir ein “Ach du Scheiße!” raus, fast zeitgleich entdeckt sie, was da auf dem BlauWeissen Schal steht, und ihr entfährt genau dasselbe: “Ach du Scheiße! Schalker!”. Verdutztes Schweigen für zwei Sekunden, dann müssen alle lachen.
Unten ist es gar kein Problem, in den Block zu kommen. Ich erklär den Ordnern, dass unsere Plätze oben sind, der Weg so weit, die Treppe so steil, wir so alt, und hier ja so viele Sitze frei – und schon hocken wir direkt an der Eckfahne, mit klasse Blick auf Goalkeeperidis und den eingewechselten Seitaridis – und natürlich auf die Kurve der Hellenen, in der ein Einpeitscher in traditioneller Tracht für Feuer sorgt. Eben singen sie ihr “Schieß ein Tor für uns!”, zwar auf griechisch, aber mit der bekannten Melodie – ein 2:0 ist offenbar noch nicht genug.
Wir wechseln ein letztes Mal den Standort, diesmal mitten in die Kurve hinein, wo ich mir ein ähnliches Erlebnis erhoffe, wie bei der WM im Block der Argentinier. Das war wirklich unvergesslich und seitdem träume ich von “Fußball in Südamerika”, aber jetzt, hier, erinnert eigentlich nur noch das Blau und Weiss daran – denn von ausgelassenem Jubel und tranceähnlichem Anfeuern kann keine Rede mehr sein. Portugal hat eben direkt vor meiner Nase den Anschlusstreffer erzielt, und jetzt sind die Hellenen im Block ordentlich erschüttert, stehen gelähmt und schweigend aber immer noch untergehakt auf den Sitzen - während der Ordner hinter ihnen versteckt die Faust ballt und tonlos jubelt. Aha. Ich verrat nix.
Der Rest ist Zittern – aber dann ist es geschafft. Griechenland schlägt Portugal. Wie immer.
Draußen sind die verdammten Gitter und Ketten vor der U-Bahn-Station wieder aufgebaut, und die Menge quetscht sich bewacht von zahllosen Ordnern in Warteschleifen, wie man sie von Freizeitparks kennt, bis endlich die Bahn voll und unterwegs ist.
Auch Deutschland habe gewonnen, Gomez zweimal getroffen, erfahren wir. Mir egal. Ich freu mich für meine bessere Hälfte. Die strahlt vor Stolz und Glück und fühlt sich jetzt von Kopf bis Fuß als genau das, was sie ist: Europameister!
50 Fotos+Stadionpanoramen gibt´s hier:Griechenland-Portugal