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Kommt es im Fußballturnier zum Elfmeterkrimi, gewinnen meistens die Deutschen - zum Frust der Engländer oder Niederländer. Ein Psychologe hat jetzt Strafstoß-Duelle aus 30 Jahren analysiert und neue Belege für die These gefunden.
Einmal, ein einziges Mal, verlor die deutsche Fußballnationalmannschaft ein Elfmeterschießen in einem großen Turnier. An die legendäre "Nacht von Belgrad" am 20. Juni 1976 erinnert sich einer besonders ungern: Uli Hoeneß. Im Endspiel der Europameisterschaft versiebte der frühere Flügelstürmer und heutige Manager des FC Bayern München seinen Strafstoß, die Tschechoslowakei holte den Titel. Ansonsten ist die Bilanz des Deutschen Fußballbunds makellos. Wann immer es bei späteren Europa- und Weltmeisterschaften zum Elfmeter-Krimi kam - und das war immerhin fünfmal der Fall -, setzte sich die DFB-Elf durch, zuletzt gegen Argentinien bei der WM 2006.
Ganz anders dagegen die Engländer. Die Nationalkicker von der Insel gelten als ausgesprochene Versager beim Penalty. Zwischen 1990 und 2006 traten sie sechsmal zum Elfmeterschießen in einer EM- oder WM-Partie an – fünf davon gingen verloren, zwei an Deutschland (1990 und 1996).
Der norwegische Sportpsychologe Geir Jordet glaubt, das Elfmeter-Trauma im Mutterland des Fußballs jetzt erklären zu können. Und auch, warum die Strafstoß-Bilanz der Niederlande nicht viel besser aussieht. Der Befund des Forschers aus Oslo: Je mehr hochdekorierte und mit internationalen Titeln verwöhnte Spieler im Kader sind, desto mieser schneidet die Mannschaft bei Elfmeter-Entscheidungen ab. Denn auf den Superstars und ihren Teams laste ein höherer Druck, durch einen verschossenen Strafstoß "das Gesicht zu verlieren", wie Jordet im "Journal of Sports Sciences" schreibt.
"Elfmeterschießen ist der extremste Fall von Leistungsdruck im Fußball, wenn nicht gar im ganzen Sport", urteilt der Experte von der Norwegischen Hochschule für Sportwissenschaften nach langjähriger Forschung auf diesem Feld.
Elfmeterschießen aus 30 Jahren analysiert
Für seine neue Studie hat der Sportpsychologe untersucht, wie acht europäische Nationalteams zwischen 1976 und 2006 bei EM- und WM-Elfmeterschießen abgeschnitten haben: Deutschland, England, Spanien, Italien, Frankreich, Tschechien, Dänemark und die Niederlande. Dann ermittelte er, welche der Schützen zuvor zum Fußballer des Jahres gewählt oder bei einer WM besonders ausgezeichnet worden waren. Als zusätzliches Maß für das Renommee wählte Jordet die Zahl von Europapokal- beziehungsweise Champions-League-Titeln, die Vereinsmannschaften der acht Länder gewonnen hatten. Demnach genießt Holland den höchsten Teamstatus, dicht gefolgt von England.
Bei der Auswertung der Elfmeterschießen selbst ging es dem Norweger nicht nur um versenkte und verschossene Bälle. Hier liegen die frühere Tschechoslowakei mit 100 und Deutschland mit 92,9 Prozent vorn, England (67,7 Prozent) und die Niederlande (66,7 Prozent) abgeschlagen am Ende. Per Videoanalyse überprüfte Jordet zusätzlich, wie viel Zeit sich die Schützen nach dem Pfiff des Schiedsrichters ließen und wie sie sich nach dem Zurechtlegen des Balls bewegten: Gingen sie rückwärts, Auge in Auge mit dem Keeper? Oder drehten sie sich um und wandten ihrem Gegner auf der Torlinie vorübergehend den Rücken zu?
Das Resultat: Englische EM- und WM-Elfmeter-Schützen hatten es am eiligsten; sie begannen ihren Anlauf im Mittel schon 0,28 Sekunden nach dem Pfiff, gefolgt von Spaniern (0,32 Sekunden) und Niederländern (0,46 Sekunden). Deutsche und erst recht französische Spieler ließen es mit 0,64 bzw. einer ganzen Sekunde lockerer angehen. Auch beim Anlaufnehmen heben sich die Kicker von der Insel von der Konkurrenz ab: In mehr als der Hälfte der Fälle vermeiden sie den direkten Blickkontakt mit dem Torwart. Bei Frankreich und Deutschland trifft das nur in etwa auf jeden dritten Strafstoß zu.
Fluchtverhalten vor dem Schuss
Große Eile beim Elfmeterschützen wertet Jordet als Fluchtverhalten. Aus der Psychologie sei bekannt, dass Menschen Stresssituationen, die am Selbstbild kratzen, möglichst rasch hinter sich bringen wollen. So sei es auch beim Elfmeterschießen und insbesondere bei Superstars, auf denen der größte Erwartungsdruck laste.
In einer noch unveröffentlichten Studie für das "Journal of Applied Sport Psychology" untermauert Jordet diese These. Er unterscheidet darin zwischen bereits dekorierten Spielern und solchen, denen eine hohe persönliche Auszeichnung zum Zeitpunkt des Elfmeterschießens noch bevorstand. Interessanterweise verwandelten die kommenden Stars deutlich mehr Strafstöße. Beide Gruppen besäßen sicher vergleichbare fußballerische Qualitäten, vermutet Gordet. "Aber wenn sie noch nicht so stark wahrgenommen werden, ist der öffentliche Druck geringer, und die Spieler schneiden besser ab."
Auch das Abwenden vom Torwart nach dem Zurechtlegen des Balls gilt als Ausdruck großer Anspannung. "Unsere Forschung legt nahe, dass Spieler mit wenig Selbstvertrauen und großer Angst vor dem Elfmeter dazu neigen, den Blickkontakt mit ihrem Gegner zu vermeiden", erläutert der Sportpsychologe Iain Greenlees von der University of Chichester in Südengland. Auch er hat kürzlich gemeinsam mit anderen Forschern eine Arbeit zum Thema veröffentlicht. "Wenn Elfmeterschützen sie mit festem Blick anstarrten, verunsicherte das die Torhüter in unserer Studie", so Greenlees. "Ihre Zuversicht, den Ball zu halten, sank." Zeige der Elfmeterschütze aber Nervosität, stärke er damit den Keeper.
Nachteil EnglandGreenlees stimmt mit seinem Kollegen Jordet darin überein, dass auf englischen Nationalkickern und vor allem auf den Superstars "ein unvergleichlich hoher Druck lastet". Das liege auch daran, dass sie seit Jahrzehnten keinen EM- oder WM-Titel mehr gewonnen haben. Die gnadenlose Presseberichterstattung auf der Insel tue ein Übriges, so Greenlees: "Englische Spieler, die entscheidende Elfmeter verschießen, werden jahrelang lächerlich gemacht."
Nach Jordets Überzeugung gibt es aber Wege aus der Misere. "Nimm dir eine Extrasekunde und atme durch, bevor Du anläufst", rät der Norweger. Auch Trainer könnten Druck von ihren Spielern nehmen, "indem sie die Entscheidung treffen, wer schießt, statt ihre Leute zu fragen, ob sie wollen". Damit nehme der Coach den Elfmeterschützen Verantwortung ab.
Außerdem nütze es nichts, Strafstöße zu üben. Denn "einen zu verwandeln, ist eigentlich nicht besonders schwierig", meint Jordet. Wenn schon, dann müssten wirklich komplette Elfmeterschießen nachgeahmt werden - am besten mit Zaungästen, um das aufzubauen, worauf es ankommt: eine gehörige Portion Psycho-Druck.
Das alles sind nicht bloß akademische Gedankenspiele eines Hochschulforschers. Jordet ist auch praktisch tätig. Schon fünfmal arbeitete er mit niederländischen Nationalmannschaften zusammen, zuletzt mit der U-21-Auswahl, als sie 2007 Europameister wurde. Im Halbfinale musste das Team tatsächlich ins Elfmeterschießen. Und gewann. Der Gegner damals: England.
Quelle: Sportpsychologie: Warum England im Elfmeterschießen immer verliert - SPIEGEL ONLINE - Nachrichten - Wissenschaft
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