Es ist die Saison der Superlative, die immer noch gesteigert werden. Aus Gladbacher Sicht heißt das leider: Es gibt immer noch tiefere Tiefpunkte. Für eine Niederlage im wegweisenden und vorerst entscheidenden Abstiegsduell gegen Kaiserslautern musste man jederzeit gewappnet sein. Dass die Niederlage schließlich durch ein Eigentor des eigenen Torwart zustanden kommen sollte, konnte so jedoch niemand auf dem Zettel haben. Der erste Teil eines Abgesangs in acht Akten – man muss zumindest davon ausgehen.
Ich habe in letzter Zeit oft überlegt, wie das wäre – letzter Spieltag in Hamburg, alles drin, aber ein Sieg ist Pflicht. Bier und Baldrian wären meine Freunde. Oder am besten doch nur Baldrian. Vielleicht auch nur Bier.
Am Freitagabend ist die Borussia davon noch weit entfernt. Ihr Ziel: Um 22:18 Uhr nicht noch weiter davon entfernt sein. Es schüttet bereits seit Stunden, 47 000 sind gekommen, die viertbeste Auslastung der Saison. Bayern, Bremen und Schalke lockten mit ihrem Namen, neben Lautern lockte das Flutlicht, dazu die Gewissheit, so oder so 90 Minuten zu erleben, die über Wochen hinaus große Bedeutung haben könnten.
Es muss ziemlich genau 21:48 Uhr sein, als Gladbach zum ersten Mal in dieser Saison absteigt. Gefühlt, wohlgemerkt. Es ist nur eine Ecke, eine von insgesamt drei, die Kaiserslautern an diesem Abend in den Strafraum schlägt. Es ist die zweite hintereinander. Die erste hat Logan Bailly gegen Tony Jantschke gefaustet. Im Nachhinein fragt man sich, ob man da irgendetwas geahnt hat, ob es ein Vorzeichen war für das, was bei der folgenden Ecke passieren würde. Aber warum sollte man das ahnen? Warum sollte man es sich überhaupt fragen?
Die nächste Ecke kommt, Tiffert schlägt sie als exakte Kopie der ersten in die Mitte, viel zu nah vors Tor, fanggerecht für Logan Bailly, den Belgier, der gegen Bremen sein bestes Spiel seit mindestens einem Jahr gemacht hatte. Er nimmt die Faust, die rechte Faust. Einfach so, mit nichts zu vergleichen. So wie kein Torwart faustet, so wie niemand in keiner Lebenslage faustet. Nicht beim Boxen, nicht beim Faustball, nicht bei einer Prügelei. Bestenfalls gegen einen Luftballon, der einem irgendetwas Schlimmes getan hat. Der Ball ist drin und ich weiß nicht mehr, ob Stille herrschte oder ein Raunen durchs Stadion ging. Ich weiß nur, dass die Lauterer Fans eine Leuchtrakete zündeten, wahrscheinlich haben sie beim Jubeln sogar Geräusche von sich gegeben.
Wenn man in einer einzigen Sekunde absteigen kann, dann war es diese eine zwischen 21:48 und 21:49 Uhr.
Der Rest ist viel zu schnell erzählt. Der Heber von Stranzl, den Rodnei von der Linie köpfte, das war‘s auch schon. Nach dem 0:1 ist noch eine halbe Stunde zu spielen. Es sieht aus, als wäre das Gegentor in der 89. Minute gefallen, weil sich in der Folge alles 30-fach verlangsamt bewegt, so hat es den Anschein. Da ist kein Aufbäumen, kein einziger verzweifelter, langer Ball in die Spitze, in der Hoffnung, der Stürmer möge abtropfen und danach irgendetwas Gutes geschehen lassen. Nichts und niemand wird noch vorne geworfen. Gladbach spielt, als sei diese letzte halbe Stunde außer Wertung.
Gnadenlos ehrlich: Kicker online. Screenshot: kicker.de
Für Logan Bailly könnte es der einzige Trost sein, dass sein Fehler zwar auf dem Papier nun die Niederlage gebracht hat, Gladbach aber nie und nimmer selbst ein Tor zustande gebracht hätte. Es ist dennoch nicht zu fassen, wie jemand solch ein überragendes Spiel in Bremen machen und in der Woche darauf den Ball ins eigene Tor fausten kann. Das Einwurf-Gegentor von Jean-Marie Pfaff in den 80ern war lustig, regelrecht Slapstick, auch Logan Baillys Aktion war Slapstick, aber jetzt weiß jeder, warum „slap“ darin steckt, eines von vielen englischen Wörtern für „schlagen“.
Und dann ist es plötzlich wieder Oktober, wie damals gegen Bremen: Logan Bailly fängt eine Flanke sicher ab, so wie er in Bremen jede Flanke abgefangen hat. Die Nordkurve johlt wie ein Sportstudio-Publikum nach dem sechsten Treffer an der Torwand. Damals gegen Bremen, als es nicht anders war, habe ich die Reaktion der Fans nachvollziehen können, als „legitim“ bezeichnet, als „Basisdemokratie im Stadion“. Damals hatte Logan Bailly über Wochen einen völlig verunsicherten Eindruck gemacht, unter anderem sieben Tore in Stuttgart kassiert. Die sportliche Lage im gesamten Verein eskalierte langsam. Michael Frontzeck schien es nicht zu erkennen, also war die Reaktion großer Teile der Nordkurve damals so etwas wie ein „Hilferuf“ an den Trainer, das Geschehene nicht einfach so weiter geschehen zu lassen.
Tobias Levels und das zweite Eigentor des Tages
Jetzt, Mitte März, ist die Lage eine völlig andere: Logan Bailly hatte drei Spiele lang kaum etwas zu tun. Gegen Schalke und Hoffenheim hatte er sogar keinen einzigen Ball halten müssen, gegen Bremen hielt er dann welche, die nur Torhüter halten, die wieder mit sich selbst im Reinen sind und nicht an den Mythos der unhaltbaren Bälle glauben. So sehr Baillys Fauxpas mit der Faust auch schmerzen mag, so falsch ist es, ihn dafür noch mit Häme zu überschütten. Es ist ein schmaler Grat für Fans. Wie viel darf man sich rausnehmen, wo sind die Grenzen?
Tobias Levels hat die Fans in einem Rundumschlag kritisiert. „Die Stimmung im Stadion war für mich eine absolute Frechheit“, sagte er „Fohlen Hautnah“. Bei jedem, der Freitagabend im Stadion noch Tränen in den Augen hatte, wird die Aussage die Trauer ganz schnell in Wut umschwenken lassen. Man muss fast davon ausgesehen, dass Tobias Levels die Bühne auf Sky vermisst, wo er fast jedes Wochenende die immer gleichen Durchhalteparolen ins Mikro sagen konnte. Wo er ehrlich ansprach, was in seinen Augen Scheiße war, wo es aber nie den Eindruck machte, als könnte er einen erheblichen Anteil dieser Scheiße selbst verbockt haben.
Jetzt stellt er sich nach dem Spiel also hin, findet Dinge „unverschämt“ und betont, das könne man „ruhig auch mal schreiben“. Man muss ernsthaft daran zweifeln, ob Tobias Levels überhaupt im Stadion war. Vielleicht saß er mit Kopfhörern – Modell „Fußballprofi“ – auf der Bank und hat dadurch nicht wahrnehmen können, dass die Fans 45 Minuten lang wie eine Wand hinter der Mannschaft standen. Jeder konnte da bereits sehen, dass der Mannschaft wenig einfiel, dass sie nervös war, offensichtlich – und nicht einmal unverständlich – von der Angst gelähmt wurde. Trotzdem hallten noch laute „Vau-Eff-Ell“-Rufe durchs Stadion, als Tifferts Ecke schon in die Mitte segelte.
Gefangen im eigenen Kosmos
Wie sollen so viele Menschen, die zusammen eine mittelgroße Stadt ergäben, 90 Minuten lang zusammenreißen können, wenn ihre eigene Existenzangst doch noch viel größer ist als die des einzelnen Spielers auf dem Platz. Einigen von denen haben immer noch die Aussicht, im Falle des Abstiegs wegzulaufen und sich einen anderen Verein zu suchen. Kein Fan hat diese Option. Er könnte sich höchstens dafür entscheiden, nichts mehr mit Fußball m Hut zu haben, dadurch aber nicht wesentlich glücklicher zu werden.
Vielleicht fehlt einem in seinem Mikrokosmos Profifußball das Gespür für weitere Kreise als eine Umkleidekabine von der Größe einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Vielleicht kann es sich Tobias Levels nicht mehr vorstellen, was es bedeutet, 24 Stunden kaum an etwas anderes zu denken, sich als erwachsener Mensch den Kopf darüber zu zerbrechen, wie man das Unterfangen mit etwas Aberglaube unterstützen könnte, obwohl man alt und aufgeklärt genug ist, um zu begreifen, dass die Kleiderwahl nicht ein Spiel einer Liga beeinflusst, deren Vereine zusammen einen Milliardenumsatz machen. Was es zudem heißt, minutiös zu planen, wie man nach der Arbeit möglichst schnell ins Stadion kommt. Wie es ist, das Wasser in den Schuhen stehen zu haben, es aber erst zu merken, wenn man nach Hause kommt, weil alle Wahrnehmungskanäle zuvor auf Fußball ausgerichtet waren.
Vielleicht hätte man Tobias Levels ein Fernglas geben sollen. Er hätte sich die traurigen Gesichter in der Nordkurve ganz aus der Nähe anschauen können. Männer, Frauen, Jung und Alt, dick und dünn, Akademiker, Angestellte, Arbeitslose, alle Fans eben – mit Tränen in den Augen. Vielleicht wäre ihm dann klar gewesen, warum Trauer an einem gewissen Punkt in Wut umschlägt, wenn 43 000 Gladbach-Fans nicht einen Hauch von Aufbäumen bei ihrer Mannschaft spüren. Es ist bitter, dabei zuzusehen, wie etwas zerbricht, an das man so unerbittlich geglaubt hat, obwohl es anscheinend schon lange zerbrochen war.............
Ja, ich weiß, viiiiiieeeel zu lang ab dieser Artikel von Entscheidend-is-aufm-Platz.de spricht mir wirklich aus der Seele.
Ansonsten werde ich es dabei belassen mich nicht mehr über diese Ansammlung von Versagern zu äußern.