Alles anzeigenJo, die Meister der Herzen. Ich war da 13 und wir wohnten in New Jersey. Meine Initialzündung für die Saison war das Derby im September - das gewann Schalke 0:4 und da entdeckte ich, dass man auf bundesliga.de alle Spiele live und in voller Länge mithören konnte. Schalke war plötzlich ganz oben mit dabei und ab da stand ich jeden Samstag früh auf, um die Spiele zu hören. Ich ganz alleine, morgens um 9:30 in meinem Kinderzimmer, in Trikot und Schal vorm Computer.
Eigentlich war es bis zur Halbzeit ja gar nicht so spannend, bis Schalke das Spiel plötzlich drehte. Als es Schalke 15 Minuten vor Schluss wieder drehte, bin ich das erste Mal ausgerastet. So saß ich an besagtem Morgen zum Spielende nicht im Kinderzimmer, sondern bei meinem Vater im Büro. Das war im Vor-WLAN-Zeitalter - ich war also der Meinung, dass hier etwas so Wichtiges passiert, dass das alle mitbekommen müssen und Papas Computer dafür herhalten muss.
Es fiel das Tor in Hamburg, ich drehte eine große schreiende Runde durchs Haus, und dann griff ich zu unserem Festnetztelefon und rief meinen Opa in Deutschland an. Das war der in Gelsenkirchen geborene Opa, der mit Fußball eigentlich nie viel am Hut hatte, aber der mich mit Geschichten aus seiner Kindheit zum Schalker gemacht hatte. "Opa, wir sind Meister! Schalke ist Meister!" Das Online-Radio lief noch und wir waren dann noch am Telefon, als Schalke nicht mehr Meister war. So war ich für meinen Opa also sein ganz persönlicher Rollo Fuhrmann, auch wenn ihn das sicher nicht ganz so sehr mitgenommen hat.
Im Sommer waren wir zu Besuch in Deutschland. Meine Großeltern haben uns Kinder einen Tag mit aufs Schalker Vereinsgelände genommen, wir durften Fotos mit dem Pokal machen. Im alten Fanshop bekam ich ein Meister-der-Herzen-T-Shirt, das war mir lieber als das für den Pokalsieg (und dabei bleibe ich bis heute, auch wenn viele Schalker es schlimm fanden, dass der Verein sich dieses Bild auch noch zu eigen gemacht hat). Wir konnten ins leere Parkstadion mit der eingepackten Anzeigetafel, meine Schwester und ich sind auf den Zäunen rumgeklettert. Irgendwo in einem Schrank gibt es noch meinen alten Camcorder und eine Digital8-Kassette, auf der wir das verewigt haben.
Im Winter feierten meine Großeltern Goldhochzeit, wofür wir über Weihnachten nach Deutschland reisten. Zwei Wochen später waren wir wieder da: Mein Opa war gestorben, seelenruhig eingeschlafen mit 81. Ein halbes Jahr später zogen wir relativ unerwartet zurück nach Deutschland, in einen neuen Stadtteil. Meine Eltern leben bis heute dort, meine damals neuen Freunde zum großen Teil ebenso, dort bin ich bis heute zuhause.
In der Saison der Meister der Herzen war ich fürchterlich unglücklich - eigentlich ohne Grund, so wie man das mit 13 eben sein kann. Es war unser 2. Jahr in Amerika, ich hatte schon keinen Kontakt mehr zu meinen alten Freunden nach Deutschland, hatte aber eine diffuse Vorstellung von "Deutschland" als einem Ort, an dem ich lieber wäre. Ich war damals irgendwie entwurzelt, und um mir Halt zu geben habe ich mir eingeredet, dass ich an jedem Samstagmorgen um 9:30 einen wichtigen Termin mit Schalke hätte. Dieses Gefühl hat sich auf mein ganzes restliches Leben ausgewirkt: Wenn ich nicht weiß wo ich anfangen soll, dann fange ich mit dem Spielplan an. Und so habe ich danach ganz oft Schalke oder Fußball zu meiner Prio 1 gemacht, so wie ich es davor eigentlich nie gemacht hätte. Wenn die Meister der Herzen nicht gewesen wären, dann hätte ich mich in dem Jahr mit 13 vielleicht vom Fußball weggekommen - stattdessen habe ich ihn über Jahre in den Mittelpunkt gestellt.
In meiner Wahrnehmung ist für Schalke ist die Zeit nach der 4-Minuten-Meisterschaft erst dieses Jahr mit dem Abstieg zu Ende gegangen. Keine Ahnung ob ein 2001 gebornener Fan das auch so sieht, für mich ist das so. Vor 2001 schien es utopisch, dass Schalke mal Meister werden könnte, selbst nach dem UEFA-Cup-Sieg. Ich war auch nicht Fan geworden in dem Glauben, das mal erleben zu dürfen. Nach 2001 schien es ein Versprechen zu sein, dass Schalke es bald mal werden müsste. Das hat damals den Zuschauer-Boom in der Arena ausgelöst, das hat damals eine ganze Fan-Generation - meine Fan-Generaiton - dazu gebracht, in Riesenscharen auf Schalke zu rennen: Die Hoffnung, sowas noch einmal erleben und einfangen und auskosten zu dürfen. Es hat den Verein größer denken lassen, es hat ihn aber auch nervöser gemacht, und spätestens nach Assauer hat es ihn unvertretbare Risiken eingehen lassen. Natürlich ohne Happy End, warum auch, wir sind ja schließlich Schalke.
Schalke nach Corona wird etwas ganz anderes sein - schöner vielleicht, weil reduziert auf diejenigen, die mit Schalke noch etwas anfangen können, ohne immer gleich den großen Topf Gold im Hinterkopf zu haben. Ich freue mich schon drauf, aber ein bisschen ist es auch so, als müsste man endgültig seine Kindheit begraben. Als man 13 war und sich einreden konnte, dass es das Wichtigste der Welt ist, dass man morgens um 09:30 im Trikot vorm Computer sitzt.
Im Nachhinein bin ich glücklich, das alles erlebt zu haben und damals ein paar Minuten geglaubt zu haben, dass wir Meister sind. Den Anruf bei meinem Opa nimmt mir keiner. Und ich glaube, ich rufe heute mal meine Omma an
Falscher Verein, aber sehr sehr schön geschrieben.
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